Als die Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert die Geburt der Abstraktion feierte, galt Wassily Kandinsky lange als ihr Begründer. Doch während er 1911 seine „Kompositionen“ malte, hatte eine schwedische Künstlerin bereits tausende farbgewaltige, symbolische Werke geschaffen, die alle Grenzen der sichtbaren Welt überschritten. Ihr Name: Hilma af Klint.
Was erst Jahrzehnte nach ihrem Tod ans Licht kam, war eine künstlerische Revolution – verborgen in Kisten, versiegelt mit der Anweisung, die Bilder dürften erst 20 Jahre nach ihrem Tod gezeigt werden. Af Klint war überzeugt, dass ihre Zeitgenossen die spirituelle Dimension ihrer Kunst nicht verstehen würden. Und sie hatte recht: Erst im späten 20. Jahrhundert begann man zu begreifen, dass sie das war, was man später „abstrakt“ nennen sollte – nur tiefer, mystischer, psychologischer.
Gleichzeitig, im frühen 20. Jahrhundert, arbeitete ein anderer Visionär an einer ähnlichen Grenze zwischen Geist und Form: der Psychologe Carl Gustav Jung. Auch er zeichnete und malte – nicht für die Öffentlichkeit, sondern zur Erforschung seiner Seele. Seine Illustrationen im „Roten Buch (Liber Novus)“ entstanden aus Trancezuständen, Visionen und „aktiver Imagination“. Wie af Klint ließ er das Unbewusste selbst sprechen – in Farben, Symbolen und Mandalas.
Beide, die Malerin und der Psychologe, erforschten auf unterschiedlichen Wegen dasselbe Territorium: die unsichtbaren Landschaften des menschlichen Geistes.
Spiritualismus und die Kunst der Verbindung
Hilma af Klint (1862–1944) war akademisch ausgebildet, doch die Landschaften und botanischen Studien, die sie zeigte, waren bloß Fassade. Ihr eigentliches Werk entstand in Zusammenarbeit mit einer spiritistischen Gruppe namens „The Five“, die um 1896 begann, regelmäßig Séancen abzuhalten. Dort wollten sie mit jenen „Hohen Meistern“ Kontakt aufnehmen, die ihnen Wissen über den Aufbau des Universums vermitteln sollten.
Af Klint sah sich weniger als alleinige Schöpferin denn als Medium, das Botschaften aus einer höheren Sphäre in Farbe und Form übersetzt. „Die Bilder wurden direkt durch mich gemalt, ohne Vorzeichnung und ohne Änderung“, schrieb sie in ihrem Tagebuch.
Diese Praxis hatte nichts mit naiver Esoterik zu tun. Af Klint stand in engem Austausch mit den Strömungen der Theosophie, deren bekannteste Vertreterin Helena P. Blavatsky eine Synthese aus westlicher Mystik, indischer Philosophie und Naturwissenschaft anstrebte. Die Theosophie lehrte, dass alles Leben Ausdruck einer göttlichen Ordnung sei, die sich in Schwingungen, Farben und Symbolen manifestiert.
Af Klint übertrug diese Ideen auf ihre Leinwand. Ihre geometrischen Formen, Spiralen, Buchstaben und Farbverläufe sind visuelle Diagramme kosmischer Prinzipien. Besonders auffällig ist ihr wiederkehrendes Spiel mit Gegensätzen: männlich und weiblich, Licht und Dunkel, Geist und Materie. Gelb stand für das Männliche, Blau für das Weibliche, Grün für deren Vereinigung. Ihre Bilder wirken wie Karten eines inneren Universums – und zugleich wie Vorwegnahmen jener psychologischen Symbolsprache, die Jung wenige Jahre später zu entwickeln begann.
Jung und das Selbst als Mandala
Carl Jung (1875–1961), Schüler und später Gegner Sigmund Freuds, verstand die Seele als dynamisches System aus bewussten und unbewussten Kräften. Nach einem psychischen Zusammenbruch um 1913 begann er, seinen Träumen und Visionen zu folgen – ein Prozess, den er später als „Konfrontation mit dem Unbewussten“ beschrieb.
In dieser Phase entstanden die Texte und Zeichnungen seines „Roten Buches“. Es ist ein Werk zwischen Psychologie, Mythologie und Kunst – eine Reise durch die inneren Welten des Bewusstseins. Jung malte Mandalas, kreisförmige Kompositionen mit symbolischer Mitte. Für ihn waren sie Ausdruck der seelischen Ganzheit, Zeichen des Selbst – jenes Archetyps, der das Zentrum der Persönlichkeit bildet.
„Die Mandalas sind Symbole des Selbst und der Ordnung in der Seele“, schrieb er. „Sie entstehen spontan, meist in Zeiten innerer Verwirrung, und bringen eine neue Balance.“
Was bei Jung eine Methode der Selbstanalyse war, fand bei af Klint seine bildnerische Entsprechung. Auch sie arbeitete mit konzentrischen Formen, Kreisen und Symmetrien – nur nicht als Psychologin, sondern als spirituelle Kartografin des Unsichtbaren.
Parallele Wege zur Abstraktion
Beide schöpften aus der gleichen Quelle: dem kollektiven Unbewussten – jener Schicht der Seele, in der archetypische Bilder und Symbole wohnen, die allen Menschen gemeinsam sind.
Jung formulierte diesen Begriff erst Jahrzehnte später, doch af Klint hatte ihn intuitiv vorweggenommen. Ihre Werke – etwa die Serie „Die Zehn Größten“ (1907) – zeigen die Stadien des Lebens von Kindheit bis Alter in Formen, die sich zwischen Biologie und Kosmos bewegen. Sie malte Trichter, Spiralen, Blüten, Kreise – als würde sie das Wachstum des Bewusstseins selbst sichtbar machen.
Auch Jung sah im künstlerischen Ausdruck eine Brücke zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Er empfahl seinen Patienten, automatisch zu zeichnen oder zu malen, um verdrängte Inhalte ans Licht zu bringen. Einer, der diese Methode aufnahm, war Jackson Pollock, der in den 1930er Jahren eine jungianische Therapie begann. Seine „Drip Paintings“ sind, so gesehen, nicht nur gestische Explosionen, sondern Manifestationen einer seelischen Energie – Nachfahren jener Pioniere, die Kunst als Sprache des Inneren verstanden.
Abstraktion als universelle Sprache der Seele
Was Hilma af Klint und Carl Jung verbindet, ist der Versuch, das Unsichtbare sichtbar zu machen – nicht durch Nachahmung der äußeren Welt, sondern durch Ausdruck innerer Strukturen.
Abstraktion, in diesem Sinne, ist keine Stilrichtung, sondern eine mystische Praxis. Sie übersetzt die Erfahrung des Unbewussten in Form, Farbe und Rhythmus. Sie ist weniger Darstellung als Offenbarung.
Während die Kunstwelt lange glaubte, Abstraktion sei ein rationales Experiment der Moderne, offenbart sich in den Werken af Klints und Jungs eine tiefere Wahrheit: Sie ist eine Sprache des Geistes, eine visuelle Grammatik des Seelischen.
Ihre Formen erinnern an Symbole aus Religion, Alchemie und Biologie zugleich – als hätten beide unabhängig voneinander denselben inneren Bauplan des Lebens berührt. Vielleicht, so deutet der Artikel aus dem DailyArt Magazine an, ist genau das der Punkt: Das Unbewusste spricht in universellen Bildern, und Künstler wie af Klint und Jung waren seine Übersetzer.
Ein Vermächtnis der Tiefe
Heute, da Hilma af Klint weltweit gefeiert wird – von der Guggenheim-Ausstellung in New York bis zur Tate Modern in London – erkennen wir, dass ihre Kunst mehr war als Ästhetik: Sie war Erkenntnisarbeit.
Jung hätte gesagt: Sie durchlief den Prozess der Individuation – den Weg zur Einheit von Bewusstem und Unbewusstem. Ihre Leinwände zeigen genau diesen Prozess: Chaos, Trennung, Vereinigung, Harmonie.
Carl Jung wiederum wird zunehmend als Künstler wiederentdeckt, dessen visuelle Arbeiten die Grundlagen seiner Psychologie bilden. Beide verdeutlichen, dass Kreativität kein bloß ästhetischer Akt ist, sondern ein seelischer Dialog.
Fazit
Hilma af Klint und Carl Jung stehen an einem gemeinsamen Ursprungspunkt der Moderne – dort, wo Kunst, Spiritualität und Psychologie einander berühren.
Ihre Werke zeigen, dass Abstraktion nicht in den Ateliers der Avantgarde geboren wurde, sondern in den Visionen jener, die den Mut hatten, nach innen zu schauen.
Die wahre Leinwand ist die Seele.
Und die abstrakte Form – ihre Sprache.